13 Aug 2014

All das können die Salzburger den Ausländern verdanken...

Im Gespräch mit dem Salzburger Journalisten Clemens M. Hutter



Der 1930 geborene Clemens M. Hutter hat in Österreich und den USA Philosophie, Politologie und Volkskunde studiert. Anschließend wurde er Redakteur und dann Chef des Ressorts Ausland der Salzburger Nachrichten. Er ist Autor von bisher etwa 50 Büchern mit den Schwerpunkten Zeitgeschichte, Sozialgeschichte, Volkskultur des Ostalpenraumes und Alpinistik.





Kennen Sie Bratislava persönlich?

Im ersten Moment ist mir zu Bratislava nur Eishockey eingefallen. In der Studienzeit, das war wohl 1954, machten wir von Wien einen Ausflug zum Eisernen Vorhang. Durch den Stacheldraht hindurch waren am gegenüberliegenden Donauufer die Pressburger Burg und der Turm der St.-Martins-Kathedrale zu sehen. Aha, die haben auch eine Festung ..., dachte ich damals. In der Zeit des „Prager Frühlings“ konnte ich sogar hinter den Eisernen Vorhang nach Bratislava reisen. Da wir über die im Osten nichts wussten, war es spannend zu sehen, was die Menschen dort ausrichten. Eugen Löbl, der Chef der Nationalbank, Wirtschaftswissenschaftler und enger Mitarbeiter Alexander Dubčeks, stellte sich zwei Stunden für ein Interview zur Verfügung. Wir sprachen über die Sünden des Realsozialismus und was in Zukunft geschehen würde. Es war ein grandioses und für mich unvergessenes Gespräch mit einem kompetenten Mann ohne jede ideologische Färbung. Anschließend wollte ich Studenten treffen, und man nannte mir so eine Art Studententreffpunkt.
Die Jugend war innenpolitisch zwar hervorragend über die Ereignisse in der damaligen ČSSR informiert, doch was das Ausland und sogar das neutrale Nachbarland Österreich betraf, war sie von ideologischer Gehirnwäsche benebelt. Nicht wenige hielten Österreich für einen Außenposten der NATO und der CIA. Für mich war es ein Beweis mehr, was Pressezensur und Falschinformation bewirken können. Heute sehe ich die grobe Missachtung der Slawen als großen Verlust an. Der Osten, das war bei uns kein Thema in der Bildung, er blieb eine terra incognita – wie ich heute beschämt zugeben muss –, auch für mich eine Bildungslücke. Slawische Sprachen, Literatur und Kultur waren für uns sozusagen „nicht vorhanden“.
In Ungarn bin ich in der Zeit des Realsozialismus nie gewesen. Dafür im Goldene Prag. Davon konnte man nur schwärmen, auch wenn es längst nicht so restauriert wie heute war. Ein bemerkenswerter historischer Bezug zu Prag ist für uns Salzburger unter anderem Kardinal Schwarzenberg, der ab 1835 Erzbischof von Salzburg war. Für mich ist er der mit Abstand bedeutendste Erzbischof nach der Säkularisation Salzburgs in der Napoleonischen Zeit. Verblüffend, was der alles angefasst hat! 1849 wurde er dann zum Erzbischof von Prag ernannt, aber das würde jetzt zu weit führen ...

Es gibt eine 1.100 Jahre alte Verbindung in der Geschichte von Pressburg und Salzburg …

Im Jahr 907 u. Z. war der Salzburger Erzbischof Theitmar (Dietmar) in der Schlacht bei Pressburg ein Alliierter des Bayernherzogs Markgraf Luitpold. Sie erhielten von den Magyaren eine fürchterliche Lektion. Die mitteleuropäischen Heere waren gegen die berittenen, hochmobilen Bogenschützen chancenlos. Es hat bis 955 gedauert, bis man die Ungarn am Lech definitiv aufhalten und zähmen konnte. Daraufhin haben sie sich christianisiert.

Die Kluft zu den slawischen Völkern schien in Österreich besonders groß zu sein ...

Jede Zukunft hat eine Herkunft. Kennen wir unsere Herkunft nicht, wissen wir eigentlich nicht, wo wir stehen und wo es hingehen soll. In der europäischen Geschichte finden wir viele Pauschalurteile und Stereotype, die über Generationen vererbt wurden. Die Slawen galten im Westen vielfach als zurückgeblieben. In der Monarchie waren sie die Einfältigen, die wirtschaftlich weniger Entwickelten, die billigen Arbeitskräfte – so etwa die böhmischen Köchinnen und die vielen Hilfsarbeiter in Wien. Sie wurden oft von oben herab behandelt. In den Köpfen der Menschen sind damals Barrieren entstanden. 1918 ist die Monarchie zerbrochen und Österreich ist das, was davon übrig geblieben ist. Dieses Land hat man damals nicht einmal für lebensfähig gehalten. Österreich hatte Kohlengruben und Industriezentren an die neu entstandene Tschechoslowakei verloren, die innerhalb weniger Jahre wirtschaftlich erstarkte. Die Österreicher blieben hingegen arm. So viel zum Thema „zurückgeblieben“.
Wenn wir einen kleinen zeitlichen Sprung machen: Den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs, die nicht gerade dazu geeignet waren, die slawisch-germanischen Beziehungen zu verbessern, folgte der Eiserne Vorhang. Da war es mit irgendeinem Austausch und Verständnis überhaupt aus. Die Beziehung war bereits damals zusätzlich durch die Beneš-Dekrete vergiftet.


Wie war es in Salzburg?

Die slawische Welt war von Salzburg aus gesehen zu weit entfernt. Sie hat uns nicht wirklich berührt. Hingegen hatte der Nationalismus durchaus starke Wurzeln. In Salzburg und bis zu einem gewissen Grad in Graz war er ein mächtiger Agitationsfaktor, doch für die Massen auch ein Hoffnungsfaktor: Ab 1933 hatten die „drüben“ in Deutschland die Autobahn, wir aber brauchten neue Arbeitsplätze. Die Dauerarbeitslosigkeit lag auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise bei 26 Prozent. Da schaute man in das „Altreich“ hinüber, wo es Arbeit gab. Nur wenige Menschen fragten kritisch nach dem wie und warum des Aufschwungs. Die Rassenideologie hat ihr Übriges zur Entfremdung beigesteuert, all die Geschichten über die „Ostischen“, die Untermenschen und über die „Zigeuner“!

Was erzählt Ihre persönliche Erfahrung?

Man hörte immer wieder Sprüche wie: Trau keinem Zillertaler und keinem Böhm. Gut, das ist Geschichte. Ein anderer recht bekannter Spruch lautet bis heute: Bist a Tiroler, bist a Mensch, bist koa Tiroler, bist ein Lapp. Aber das ist bloß die vornehme Ausdrucksweise ...
Ich bin bis zum Abschluss der Universität mein ganzes „Lernleben“ ohne Kenntnis der slawischen Kultur und Geschichte aufgewachsen. Eine slawische Sprache zu lernen, wäre – so dachte ich damals – vergeudete Zeit gewesen. Ich kannte nur einen Aspekt der „slawischen“ Welt, denn ich habe mich schon an der Universität mit Marxismus uns Leninismus beschäftigt.
Wie die Menschen gelebt haben, wusste man bloß aus der Theorie. Wie es den Ungarn ergangen ist, hat uns zuerst auch nicht viel mehr als die Slawen interessiert, was sich dann durch den schiefgelaufenen Ungarnaufstand des Jahres 1956 doch etwas geändert hat. Dieser hat uns durchaus begeistert.
Nach dem Prager Frühling bauten sich nach einem kurzen Erwachen der Emotionen und der Öffnung erneut Barrieren auf. Die Kultur des Ostens blieb weiterhin die große Unbekannte. Wer ist schon über den Eisernen Vorhang gefahren? Wenn überhaupt, dann an den Balaton zum Baden, vor allem weil es dort billiger war. Wenn es noch weiter sein sollte, dann ging es vielleicht sogar an die Küste des Schwarzen Meeres nach Bulgarien oder Rumänien.
Hinter Wien beginnt der Balkan. Oder gar gleich der Orient ...

Im Sprachgebrauch besteht ein „West-Ost-Gefälle“. Anfangs der 1970er hat man die bekannten Kolarić-Plakate aufgeklebt, auf denen ein Bub in der Lederhose zu einem südländisch aussehenden Menschen aufblickt und sagt:
I haaß Kolarić
du haaßt Kolarić
Warum sogns’ zu dir Tschusch?
Die Unkenntnis entsteht durch Abschotten. Mit der Hetze gegen Ausländer kann man eine bestimmte Klientel durchaus befriedigen – außer, wie ein aktuelles Beispiel zeigt, dieser Ausländer ist ein erfolgreicher schwarzafrikanischer Fußballer, der die Ehre des Clubs oder der Nation rettet. In so einem Fall kann man sogar vom sonst ausländerkritischen Volk ins Herz geschlossen werden. Der Mensch trifft eben seine Entscheidungen jeweils zwischen Angst und Hoffnung …
Der Balkan, dieses imaginäre Land, beginnt je nach Heimat des Betrachters in Wien, an der Enns oder am Inn. Die Burgenländer waren die „Deppen“ für Wien und Niederösterreich, die Steirer für die Kärntner, die Salzburger für Tiroler, ganz Innerösterreich für die Vorarlberger, die Österreicher für die Bayern. Wir in Salzburg liegen in der Mitte. Wir bekommen vom Westen einiges aufs Dach und treten sauber nach Osten. Musterbeispiel: Für die Lungauer sind die Murauer die Dummen schlechthin ...
Das Gefälle hat zahlreiche Ursachen, historische, kulturelle und viele auch in der Wirtschaftsstruktur, in der Industrie, im Bergbau sowie in der Landwirtschaft. Und nicht zu vergessen ist der Tourismus: Die Alpen sind der Dachgarten Europas. Kleinräumige Identitäten, Dialekte, Sprache und Bräuche spielten bei all dem eine Rolle. Die Bundesländer stemmten sich gegen den „Wasserkopf Wien“. Umgekehrt sprach man von den „g’scherten Provinzlern“. Die Salzburger hatten nach 1945 das Glück, in der materiell begünstigten US-Besatzungszone zu leben. Salzburg galt als „goldener Westen“ innerhalb Österreichs. Die Menschen in der sowjetischen Zone haben sich gefragt, warum ausgerechnet sie und nicht die anderen?
Wie steht es um die Beziehungen zwischen den Salzburgern und den Bayern?

Da haben wir wieder die alte Geschichte mit West und Ost: Die Bayern sahen Salzburg meist etwas spöttisch an, weil der Balkan für sie ja bereits an der Salzach beginnt. Doch das hat sich seit dem Abriss der Grenzbalken gründlich geändert. Bis dahin sind wir nach Bayern gefahren, um günstig einzukaufen. Es war dort billiger, man hatte größere Auswahl und wir haben vor dem Zoll in Freilassing gezittert. Heute kauft man aber eher im Salzburger Europark als in Freilassing ein. Die Bayern kommen zu uns. Die Grenzschranken sind weg, die Einkaufssituation hat sich komplett umgedreht. Freilich treten schon mal gewisse Irritationen auf, wegen des Salzburger Flughafens etwa, den der deutsche Ex-Verkehrsminister Ramsauer (aus Traunstein) immer benützte. Doch dann im Wahlkampf thematisierte Ramsauer den unerträglichen Fluglärm über Freilassing!
Historisch gäbe es viel zu erzählen. Die Rivalitäten nahmen kein Ende. Die Politik der Erzbischöfe war immer, die Neutralität Salzburgs zwischen den Riesen Bayern und Österreich zu wahren. Das ist bis auf einige Dummheiten von Wolf Dietrich zumeist gut gegangen, als der Fürsterzbischof beispielsweise Berchtesgaden für sich kassieren wollte. Das hat Bayern militärisch verhindert.
Gut, man kann es nicht wegdiskutieren, ein bisschen Arroganz seitens der Bayern war immer schon dabei: Wir haben den BMW und ihr geht zu Fuß. Doch heute blüht gerade entlang der Grenze überall intensive Kooperation. Es geht ja auch ohne Vorurteile. Ein gemütliches Nebeneinander steht im Mittelpunkt: Zum Beispiel sitzen Laufen und Oberndorf bei der Planung der 200-Jahrfeier für das Lied „Stille Nacht“ gemeinsam im Boot. Das ist doch hervorragend.
Was macht das Wesen Salzburgs aus? Was haben diverse „Ausländer“ für Salzburg geleistet?

Der liebe Gott schenkte den Salzburgern eine einzigartige geografische Lage – die sie teilweise nicht verdienen, wenn man anschaut, was sie daraus gemacht haben.
Allein schon diese Naturfestung! Die Assimilationspolitik der Römer verdient eine Erwähnung. Hut ab, da könnte man sich auch heute etwas davon abschneiden: Die Kelten wurden nicht vernichtet und zwangsassimiliert, sie haben ihre eigene Kultur pflegen können, bis sie selbst darauf gekommen sind, wenn ich halbwegs Latein lerne, bin ich bessergestellt. Was für eine Integrationspolitik: Da finden wir Kelten begraben, sie trägt noch die keltische Haube und er bereits die römische Frisur.
Die Ausländer – „ausländische“ Erzbischöfe – haben an dem, was wir heute als Salzburg bewundern und vermarkten, kräftig mitgebaut. Und davon leben wir. Der letzte Salzburger Fürst-Erzbischof von Salzburg, Burkhart von Weißpriach, ist 1466 gestorben. Dann hat das Domkapitel – das Fürst-Erzbistum Salzburg war ein souveräner Kirchenstaat – immer „Ausländer“ hereingewählt: Südtiroler, Kärntner, Steirer, Wiener, Böhmen, Mähren, kaum je Bayern. Sie haben jeweils ihre Hofarchitekten mitgebracht. Wir haben die Spätrenaissance aus Italien, wir hatten schon vorher etwas aus der Gotik bekommen – die allerdings aus Bayern. Dann haben wir Hochbarock aus Österreich. Ernest Thun hat die Italiener heimgeschickt und den Fischer von Erlach (Kollegienkirche!) und den Lukas von Hildebrandt nach Salzburg geholt. Wenn man all das rückblickend anschaut, ist das kein Verdienst der Salzburger gewesen, sondern das verschiedener „Ausländer“.
Auch die berühmten Festspiele – es waren durchwegs „Ausländer“, die diese Ideen eingebracht haben. Insofern sollten wir Salzburger sagen: Danke schön für die architektonische Internationalität von Spätgotik bis Spätbarock, für die Prachtbauten, wunderbar! All das macht, wenn man so will, den Reiz der einzigartigen Stadt mit strategischer Lage aus.
Einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts, Karl Kraus, hat es so formuliert: Hätten Salzburger Salzburg gebaut, wär´ bestenfalls ein Linz draus geworden.


Wie sieht es mit der österreichischen und Salzburger Identität aus?

Sagen wir so: Was Deutsch ist an Österreich, ist die Umgangssprache. Zu dem Thema gäbe es viel zu erzählen. Ich habe noch einen herrlichen Satz von deutschen Soldaten aus dem „Altreich“ von 1939 im Ohr: Ihr Ostmärker seid ja auch Preußen, aber gemildert durch Schlamperei.
Die österreichische Identität – das ist eine Reihe von Mini-Identitäten. Wenn Sie einen Montafoner mit einem Waldviertler jeweils in ihrer Mundart – und ich sage nicht Dialekt – oder einen Zillertaler mit einem Innviertler reden lassen, dann verstehen sie einander kaum. Die Identität hat mit Brauchtum zu tun, wobei Brauchtum nicht irgendein Touristenkitsch ist, sondern das sind Regeln. Keine schriftlich niedergelegten. Wer sich an die Spielregeln hält, ist wunderbar mit dabei, und wer sich nicht daran hält, ist selber Schuld, wenn er geschnitten und ausgegrenzt wird.
Die Vorarlberger sind eine „Rasse“ für sich, ich mag sie sehr gern, weil ich das Alemannische gern habe. Die Tiroler gehen schon nicht unter einen Hut, denn das Oberinntal ist etwas anderes als das Unterinntal. In Salzburg haben wir das Innergebirg – und da sind die Pinzgauer etwas anderes als die Lungauer – und den Flachgau.
Die Stadt selbst hat insofern keine Identität, als es den Salzburger nicht gibt. Ein Drittel der Einwohner von heute sind Nachkommen von Ursalzburgern, das sind jene, die nach der Säkularisation Salzburgs übrig blieben. Ein Teil der Bevölkerung wurde damals arbeitslos, ein Teil ist abgewandert. Dafür kamen andere herein: Bis zu einem Drittel waren es Zuwanderer vom Innviertel und ein weiteres Drittel von Innergebirg. Das ergibt die heutige „Mischkulanz“, weshalb die Stadt Salzburg eigentlich keine eigene Mundart hat. Seien wir froh, dass wir so ein Kulturmosaik haben, in dem jeder Stein etwas wert ist.
Eine österreichische Identität wurde lange durch den „Wasserkopf“ Wien verhindert und die Präpotenz der Wiener gegen die „G’scherten aus der Provinz“. Differenzen ergaben sich auch durch die uneinheitliche strukturelle Entwicklung der Wirtschaft. Industrie gab es im Flachland und vor allem entlang der Donau, bevor die Eisenbahn gekommen ist.
Und dann stand natürlich der Großraum Wien im Mittelpunkt. Die Wiener sind nicht ohne die böhmische Köchin und all die tschechischen Arbeiter ausgekommen, für alles das, was der Einheimische nicht hat machen wollen.
Ja, die österreichische Identität als Nation ist jung und hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet. Ich sehe sie vor allem dann aufflammen, wenn die Fußballer und die Schifahrer irgendwo gewinnen. Nach der letzten Winterolympiade bei Putin war sie im ORF zu spüren, die Salzburger hatten den größten Anteil an Medaillen. Da liegen nationale Identität und Lokalpatriotismus eng beieinander.
Das Selbstwertgefühl steigt bei derartigen Ereignissen: „Mir san wer!“

Als „Zugereister“ hat man nur selten den Eindruck, dass man einem typischen Salzburger gegenübersteht …

Der typische Salzburger gehört zu den Legenden und internationalen Schablonen wie der französische Frauenheld, der arrogante Brite oder der diebische Italiener. Immerhin ist – wie bereits erklärt – Salzburg ein „Schmelztiegel“.
Auch jede Menge Kriegsflüchtlinge aus dem Osten und Südosten kamen zu uns. Viele sind in Salzburg ohne anzuecken durchgekommen und langsam akzeptiert worden. Nicht zu vergessen sind die Bombenflüchtlinge aus dem Rheinland, aus Berlin – da hat es immer einen gewissen Vorbehalt gegeben. Sie hänselten uns „Beutedeutsche“, was wir als arrogant empfunden haben.
Meine Frau stammt aus Köln und wir sind seit 55 Jahren verheiratet. Sie legte den rheinischen Tonfall nicht ganz ab, ist natürlich in meinem Bekanntenkreis dennoch voll integriert. Aber noch vor 20 Jahren ist ihr beim Einkaufen passiert, dass man sie fragte, ob sie in Schilling oder in Mark zahlen möchte.
Ich kenne etliche gebildete „Zuagreiste“ und irgendwann kommt man auf das Thema zu reden. Wer sind eigentlich die, die Salzburger Society? Wer ist denn dieser innere Kreis? Wir fragen uns durch – und finden sie nicht. Freilich, es gibt einige Äußerlichkeiten. Wenn man durch den Grünmarkt spaziert – nicht die Schranne am Donnerstag, da sind alle Schichten des Volkes versammelt –, nein, am Grünmarkt, und zwar am Samstag, da bemerkt man sie vielleicht schon am Hut und Mantel. Aber da steckt nicht viel dahinter. Das ist eine bessere Kaffee-Society und damit hat sich die Geschichte. Natürlich strampelt man überall in der Kultur mit, denn die Festspiele sind ebenso ein „Muss“ wie die Osterfestspiele und das Museum der Moderne.
Der typische Salzburger? Vielleicht bin ich einer, aber dann wäre es mir gleichgültig. Wenn ich so überlege, ich kenne keinen.
Der Salzburger sonnt sich gern im Glanz des ungemein „umwegrentablen“ Mozart. Dem ganzen Kitsch haben Sie schon einige Absätze gewidmet. Allerdings waren nach dem Tod Mozarts im Jahr 1791 35 Jahre verstrichen, ehe in Salzburg das erste Mozartkonzert stattfand. Über die negative Einstellung des Musikgenies zu seiner Geburtsstadt und den damaligen Machthabern weiß der Besucher in der Regel nichts.
Für die Menschheit vielleicht mindestens so bedeutend war der Physiker Christian Doppler, der 1803 in Salzburg geboren wurde. Gestorben ist der erste Professor für Experimentalphysik 1853 in Venedig, aber es hat lange gedauert, bis man ihn in der Heimat zu ehren begann. An seinem 100. Geburtstag wurde in Salzburg an seinem Salzburger Geburts- und Wohnhaus gegenüber dem Salzburger Landestheater eine Gedenktafel angebracht. In Salzburg gibt es ein Doppler-Gymnasium, und die ehemalige Landesnervenklinik wurde in „Christian-Doppler-Klinik“ umbenannt. Das Haus der Natur in Salzburg bietet eine umfangreiche Christian-Doppler-Schau zu Ehren des Gelehrten.


Was sollte ein aufgeschlossener Besucher aus Bratislava bei seinem ersten Besuch von Salzburg auf keinen Fall verpassen?

Da hätte ich einen Geheimtipp, egal woher der Gast kommt: Wer Salzburg ungestört erleben will, der wandere offenen Auges knapp vor Sonnenaufgang durch die Altstadt. Da hat er sie für sich allein. Typisch für Salzburg ist übrigens die großartige Synthese von Natur und Baukultur und nicht, was die Werbung anpreist.

Der Spruch Humboldts ist offenbar nicht authentisch …

Ah ja, die Humboldtgeschichte: „Die Gegenden von Salzburg, Neapel und Konstantinopel halte ich für die schönsten der Erde“. Das war eine glatte Erfindung. Humboldt war nie in Konstantinopel. Ein cleverer Hotelier, Karl Leitner, dem das heutige Hotel Mönchsstein (damals Leitner-Villa) gehörte und der auch die Humboldtterrasse über dem Klausentor gestalten ließ, wo man den berühmten Spruch findet, schrieb offensichtlich vom Chronisten Benedikt Pillwein ab, der Redakteur der Salzburger Zeitung war. Diese war wiederum die erste Tageszeitung der Stadt. Pillwein berichtete im Jahr 1839: Weitgereiste Menschen nennen Neapel die erste, Konstantinopel die zweyte, Salzburg die dritte der schönsten Städte Europens, nach ihnen kommt Vicenza.
Danach hat man den Text mal diskreter, mal unsinnig ausgeschmückt und für Werbezwecke der Hotels eingesetzt. Auch die Berchtesgadener haben Humboldt entdeckt. Während sich Humboldt in Salzburg auf die erste große Weltreise vorbereitet hatte, wanderte er einmal nach Berchtesgaden, um geografische und astronomische Messungen vorzunehmen. Also warb die Gemeinde Schönau später entsprechend: Schon der weit gereiste Alexander von Humboldt bezeichnete Schönau am Königssee – im Herzen des Berchtesgadener Landes gelegen – als ‚eine der schönsten Landschaften der Erde‘.



Nun sind wir am Ende unserer Wanderungen angelangt. Hoffentlich gelang uns da und dort die Vermittlung einer gewissen „mitteleuropäischen Einsicht“. Die Oberflächlichkeit des Unwissens verlassen zu können, ist ein Vorrecht, ebenso wie tiefer zu begreifen, genauer in die Volksseelen blicken zu dürfen, ihre Sprachen zu verstehen. Wenn man es nicht nur mit einer Volksseele, sondern gleich mit mehreren tun kann, ist es umso schöner.
Echte und vermeintliche Trennlinien sind noch viel tiefer, als wir vielleicht denken, zitierten wir Erhard Busek zu Beginn des Buches. Ja, die Wiener müssen noch lernen, dass Prag eine Stadt im Nordwesten und nicht im Osten ist.

(c) Fotos: Robert Hofrichter, 2014